Peter Widmer
und Peter Uhlmann wurden überrascht.
Andreas Koller und Ralph Peterli diskutieren per Videocall mit Niklas Baer über die Ergebnisse der Umfrage. Bild: spo
Eine Umfrage zeigt, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer Erfahrung mit psychischen Problemen hat. Warum das auch eine Chance ist.
Gesundheit Weil die Winterthurer Wirtschaft über immer mehr Krankheitsausfälle klagt, wollten es die Handelskammer Winterthur und der KMU-Verband genau wissen. Mit einer Umfrage bei den Unternehmen gingen sie der Ursache für die gefühlte Zunahme an Krankheitsausfällen auf den Grund. Eine Erkenntnis aus der Studie, die von den Experten Niklas Baer und Nicolas Schmäh von Workmed, dem Zentrum Arbeit und psychische Gesundheit, durchgeführt wurde: 56 Prozent der Personen, die einer Arbeit nachgehen, egal ob in einer Führungsposition oder nicht, haben Erfahrung mit psychischen Problemen, die sich negativ auf die Arbeit auswirken.
Aber: Die meisten wissen nicht, wie sie mit den Kolleginnen und Kollegen umgehen sollen, die betroffen sind. Es brauche eine offene Fehlerkultur, sagen Ralph Peterli, Geschäftsführer der Handelskammer Winterthur, Andreas Koller, Geschäftsleitung des Krankenversicherers Swica, und Niklas Baer im Interview.
Was haben Sie herausgefunden? Wie geht es den Winterthurer Arbeitnehmenden?
Niklas Baer: Auf die Frage, wer schon psychische Probleme gehabt habe, die sich auf die Arbeit auswirkte, sagte über die Hälfte, dass sie das kenne und zwar vom CEO bis zum Angestellten ohne Führungsfunktion. Häufig wurden mehrere negative Auswirkungen wie Konzentrationsprobleme, reduzierte Belastbarkeit oder eine geringere Leistungsfähigkeit genannt. Bei einem Drittel kam es zu Absenzen bei der Arbeit. Ich glaube nicht, dass man sagen kann, es geht den Befragten grundsätzlich schlecht, es zeigt sich aber, dass psychische Probleme sehr häufig sind, und das kam bei dieser Befragung deutlich zum Ausdruck.
Hat Sie das Resultat überrascht?
Baer: Es hat mich überrascht, dass so viele Leute so transparent angegeben haben, dass sie psychische Probleme hatten. Das hätte ich nicht gedacht.
Weil es ein Tabuthema ist?
Baer: Ja. Insofern werte ich das Ergebnis auch als eine Chance, wenn so viele Leute, inklusive CEOs, in einer Befragung dazu stehen. Das macht es auch zu einem versöhnlichen Resultat, nämlich, dass man eine verantwortungsvolle Position haben kann und gleichzeitig manchmal auch Probleme hat, die sich auf die Arbeit auswirken. Das schliesst sich nicht aus.
Sie sprechen von einer Chance. Wie kann man die nun nutzen?
Baer: Ich glaube, eine richtige Enttabuisierung haben wir noch nicht. Die Umfrage zeigt, dass die gleichen Leute, die selbst schon Erfahrungen mit psychischen Problemen hatten, extrem unsicher sind, wie sie mit anderen in solchen Situationen im Betrieb umgehen sollen. Die Unsicherheit im Umgang mit Mitarbeitenden mit psychischen Problemen ist sehr gross. Das ist eines der Hauptresultate, hier sollten die Firmen an ihrer Betriebskultur arbeiten. Die Mitarbeitenden brauchen Orientierung, wie man im Betrieb mit solchen Situationen umgehen will. Das gibt es praktisch nicht.
Andreas Koller: Das haben wir auch festgestellt. Die Führungspersonen sind unsicher, was sie erwarten können oder wo sie einfach Geduld haben müssen. Wir haben gesehen, dass es oft sinnvoll ist, einen Partner, eine Partnerin zur Unterstützung ins Boot zu holen, zum Beispiel eine Krankentaggeldversicherung, die Schulungen anbietet. Psychische Leiden sind viel schwieriger zu fassen als ein Beinbruch. Da hat man meist eine Vorstellung, wie lange es bis zur Genesung dauert und was man erwarten kann. Bei psychischen Leiden ist das viel diffuser, und diese Unsicherheit führt dazu, dass zu wenig schnell gehandelt wird, der Mensch zu wenig schnell angesprochen wird, oder zu wenig rasch versucht wird, ihn zu unterstützen, bevor es zu einer langen Behandlung kommt.
Eine Kernaussage der Umfrage ist die Forderung nach einer offen Betriebskultur. Kann das helfen?
Koller: Eine offene Betriebskultur ist eine Massnahme. Wenn etwas auffällt, sollte man das unverkrampft ansprechen können. Kulturell gibt es Unterschiede, wie man aus der Studie herauslesen kann. Die Industrie hat mehr Mühe, etwas sofort anzusprechen, das Arbeitsklima ist da rauer. Im Dienstleistungssektor ist man schon etwas weiter.
Sie sprechen von offener Kommunikation als Schlüssel. Mit den technischen Möglichkeiten wie Mails, Chats, Videocalls ist kommunizieren noch nie so einfach gewesen wie heute. Ein Vorteil?
Koller: Eigentlich sollte es heute einfacher sein, zu merken, wenn es jemandem nicht gut geht. Im Homeoffice ist das schwieriger, weil man sich da verstecken kann. Aus persönlicher Erfahrung schlage ich vor, dass ein Chef, der etwas identifiziert hat, das persönliche Gespräch sucht. Bei Chatprogrammen fehlt die dritte Dimension, um den Menschen wahrzunehmen.
Peterli: Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Wenn jemandem etwas auffällt, soll er das in geeigneter Form und in entsprechender Atmosphäre sofort ansprechen und nicht verdrängen, weil der Stand der Krankheit allenfalls noch nicht akut ist. Bei Nicht-Ansprechen bekommen die Probleme Zeit, zu wachsen.
Die Umfrage wurde in Winterthur durchgeführt. Sind die Zahlen vergleichbar mit anderen Städten? Sie wohnen in Basel, Herr Baer, wie sieht es da aus?
Baer: Psychische Probleme haben wir in Basel keine, dafür haben wir die Fasnacht. Nein, ich wüsste nicht, warum es hier anders sein sollte. Ich glaube, das ist etwas Generelles. Wir haben früher, vor zehn, fünfzehn Jahren ähnliche Befragungen gemacht, und damals sagten wirklich viel weniger Leute, dass sie schon psychische Probleme hatten. Ich glaube nicht, dass es damals seltener vorkam, aber man spricht heute mehr über das Thema.
Peterli: Letzten Endes hat sich wahrscheinlich die Gesellschaft verändert, das Arbeitsverhalten. Die Geschwindigkeit hat – dank oder wegen der Digitalisierung – zugenommen. Das sehen wir bei uns allen.
Das Betriebsklima ist ein Grund, den die Befragten als Ursache für die psychischen Probleme nannten. Wie können Unternehmen das Klima verbessern?
Peterli: Mit einer offenen Kultur. Das ist schnell gesagt, was in der Wahrnehmung des Individuums aber als offen beurteilt wird, ist sehr unterschiedlich. Es gilt: ‹C'est le ton qui fait la musique.› Wenn in der Umfrage 71 Prozent von einem belastendem Teamklima sprechen, zeigt die neue Arbeitswelt, dass es sehr viel schwieriger ist, ein gemeinsames Verständnis, eine gemeinsame Kultur zu etablieren. Nicht zuletzt bei den jungen, neuen Leuten, die frisch in ein Team kommen.
Koller: Was sich auch herauskristallisiert hat: Dort wo man eine Fehlerkultur pflegt, wo man Vertrauen in die Leute hat, wo man eine gewisse Eigenverantwortung übergibt und auch Fehler entstehen können, dort ist es entspannter. Es gibt noch die klassischen Führungsformen, in der man ja keinen Fehler machen darf, wo eine Angstkultur herrscht. Das führt zu einer extremen Anspannung. Gerade die junge Generation hat ein anderes Verständnis von Umgang und von Führung. Firmen sollen die Mitarbeiter einbinden, sie ernst nehmen und ihnen Vertrauen schenken, aber auch Verantwortung einfordern. Man darf fördern und fordern.
Baer: Das würde ich absolut unterstreichen. Dass die Fehlerkultur wichtig ist, ist ein entscheidendes Resultat der Umfrage. Fehler dürfen passieren. Der Fokus sollte darauf ausgerichtet sein, okay, wir haben Fehler gemacht, was können wir tun, damit es künftig weniger werden? Gleich verhält es sich mit den psychischen Problemen. Die interessante Frage ist nicht, wie viele Leute schon psychische Probleme hatten, denn es sind fast alle. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Ich glaube, in diese Richtung muss es gehen. Die allermeisten Menschen mit psychischen Problemen arbeiten, und sie arbeiten gut.
Grosse Unternehmen sind im Vorteil, weil sie mehr Ressourcen haben und Stellen wie die eines Case Managers schaffen können. Was kann eine kleinere Firma tun, um richtig zu reagieren?
Koller: Das Feld betriebliches Gesundheitsmanagement ist gross. Alle haben einen Krankentaggeldversicherer. Ich würde mir einen solchen Partner suchen und gemeinsam mit diesem schauen, wie es im Betrieb aussieht, was man verbessern kann oder was man gar nicht anzuschauen braucht, und dann gezielt darauf hinarbeiten. Ich würde die Führungsleute in die Verantwortung nehmen.
Peterli: Ja. Ich glaube, es gibt nicht das eine richtige Instrument, aber mit Scheuklappen herumzumlaufen, ist sicher falsch.
Baer: Das sehe ich auch so. Man darf nicht ewig warten, um sich Unterstützung zu holen. Es gibt Möglichkeiten, wie etwa eine Hotline einzurichten. Die andere Erfahrung ist, dass es gerade KMU mit wenigen Mitarbeitern sehr häufig gut machen. Die Personen sind näher beieinander, und der Austausch ist direkter. Und letztlich geht es um den Austausch. Es gibt zwei Dinge, bei denen Betriebe zu lange warten: Eines ist das Ansprechen, was sie praktisch nie machen, wenn ihnen etwas zum ersten Mal auffällt. Das ist schade, weil ansprechen heisst, Interesse zu zeigen. Und das Zweite ist, dass sie zu spät professionelle Hilfe holen, bevor sie sich völlig verstrickt haben und der Konflikt am Arbeitsplatz nicht mehr zu lösen ist. Es braucht Mut, jemanden anzusprechen, weil es ja oft sehr persönlich ist.
Wie merke ich, ob ein psychisches Problem da ist?
Baer: Führungskräfte müssen nicht herausfinden, ob ein psychisches Problem dahintersteckt. Das ist gar nicht ihre Aufgabe. Es würde reichen, dass sie es ansprechen, wenn ihnen etwas auffällt. Ob nun jemand finanzielle Schulden hat oder eine psychische Krankheit vorliegt, das Kind krank ist oder einfach das Auto einen Kratzer hat, das ist nicht entscheidend. Sondern uns fällt etwas auf, also dürfen wir es auch ansprechen. Das Problem ist nicht, dass es die Führungskräfte nicht merken, aber sie sprechen es nicht an.
Koller: Die Probleme äussern sich in Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, einer Fehleranfälligkeit. Das kann einem Chef auffallen.
Peterli: Das muss einer Führungsperson auffallen! Ich finde es absolut erschreckend, dass ein Drittel der Führungskräfte nicht weiss, ob man eine interne Regel oder ein Hilfsmittel hat. Das darf nicht sein. Und es darf ebenfalls nicht sein, dass 60 Prozent der Mitarbeitenden nicht wissen, ob man solche Hilfsmittel hat.
Baer: Psychische Probleme sind einfach nicht gleich wie körperliche. Der erste Punkt ist, dass man diesen Unterschied ernst nimmt und im Betrieb Leitplanken definiert, wie man damit umgeht, um allen Mitarbeitenden Sicherheit zu geben. Das ist die Basis für Vertrauen, und nur so kann ich sicher sein, dass meine Karriere nicht gelaufen ist, wenn ich dem Chef sage, dass ich etwas psychisch nicht auf die Reihe bekomme. Oder dass ich nicht von diesem Moment an ‹der Psycho› bin. Eine glaubwürdige Fehlerkultur ist die Basis.
Auffallend ist, dass leitende Personen das Betriebsklima viel positiver eingeschätzt haben als die Mitarbeitenden ohne Führungsposition. Haben Führungspersonen einen blinden Fleck?
Koller: Es fällt auf, dass die Mitarbeiter mit Führungsfunktion, die Problemursache der Mitarbeitenden eher im Privaten sehen, während die Mitarbeiter ohne Führungsfunktion sie eher im Betrieb verorten. Ich weiss nicht, ob man von einem blinden Fleck sprechen kann, aber es ist eine Divergenz. Offensichtlich gibt es andere Erwartungen. Das wäre genau ein solcher Punkt, den man ansprechen sollte. Mich hat es nicht überrascht, dass Mitarbeiter mit Führungsfunktion sagen, die Eigenverantwortung des Mitarbeiters ist wichtiger, und der Mitarbeiter eher sagt, die Firma hat eine höhere Verantwortung mir gegenüber.
Peterli: Ich hatte unterschiedliche Antworten erwartet, mit der Vermutung, dass der Vorgesetzte mehr Verantwortung besitzt, weil er eine andere Rolle hat als der Mitarbeiter.
Baer: Von einem blinden Flecken würde ich auch nicht sprechen: Es ist klar, man denkt immer, die anderen sollen mehr machen. Was mir hier besonders aufgefallen ist: Alle müssen etwas tun. Führungskräfte müssen Verantwortung übernehmen, sie könnten manchmal etwas mutiger sein. Der Betrieb kann etwas machen, Stichwort Betriebskultur, die Arbeitskollegen spielen eine Rolle, sie können unterstützen, aber auch die Betroffenen selbst können etwas tun. Es gibt, auch wenn man krank ist, einen Spielraum von Eigenverantwortung. Das sind Situationen, in denen alle etwas beitragen müssen. Es ist nicht der Superchef, der es lösen kann. Manchmal ist der Chef ein Superchef und gibt alles, um zu helfen. Aber wenn ein Team einen Mitarbeiter nicht mehr erträgt, dann wird der beste Chef an seine Grenzen kommen.
Inwiefern ist der Betroffene gefordert?
Baer: Wenn jemand schwerst depressiv ist, dann kann er nichts mehr leisten, dann sollte er aber in einer Klinik sein. Wenn jemand aber mittelgradig depressiv ist, was ja auch schon nicht nichts ist, dann könnte man doch erwarten, dass er sich alle zwei Wochen beim Chef meldet und sagt, wie es ihm geht oder wie die Perspektiven sind. Man ist nicht a priori von der Verantwortung entbunden, weil man krank ist.
Die Wirtschaft fordert, dass das qualifizierte Arbeitsfähigkeitszeugnis mehr Gewicht bekommt. Wie würde das helfen?
Koller: Ein grosses Problem der Unternehmer oder Versicherer ist, dass gerade bei psychischen Leiden oftmals der behandelnde Arzt die Person voll arbeitsunfähig schreibt. Arbeiten ist dann nicht mehr erlaubt. Man nennt das Arbeitsunfähigkeitszeugnis. Jetzt hat man mit dem qualifizierten Arbeitsfähigkeitszeugnis ein Instrument geschaffen, das den Blickwinkel umkehrt und zeigt, was der Mensch noch leisten kann. Je nach Schweregrad von psychischen Leiden kann man noch etwas leisten.
Braucht es das überhaupt? Auch ein konventionelles Arztzeugnis kann jemanden zu 50 Prozent krankschreiben.
Koller: Das machen nicht viele Ärzte. Ich glaube, Arbeit ist eine wichtige Ressource, um in der Struktur zu bleiben, um die Sozialkontakte zu behalten. Mit dem Arbeitsfähigkeitszeugnis kann man Teilarbeitsversuche machen. Hier sind die Ärzte noch zu wenig kreativ.
Peterli: Wenn ein Key-Account-Manager nicht mehr mit dem Verkaufsdruck umgehen kann, gibt es vielleicht andere Tätigkeiten, die er ausüben kann, vielleicht als Zulieferer eines Key-Account-Managers, vielleicht eine Stunde pro Tag und ohne Druck.
Interview: Sandro Portmann
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