Irene Mazza
singt und erzählt Geschichten im Museum Schaffen.
Einkaufen in hektischer Umgebung bereitet Menschen im Autismus-Spektrum grosse Mühe. Eine neue Bäckerei im Quartier Neuhegi bietet Abhilfe.
Autismus Hintergrundmusik aus dem Radio wird es keine geben, ebenso wenig grelles Licht oder laut piepsende Kassen. In rund zwei Wochen wird in Winterthur eine Bäckerei eröffnet. Als Besonderheit wird dort ruhiges Einkaufen für sensible Menschen angeboten.
«Ich bin Autistin und werde deshalb die stille Stunde einführen», sagt Kim Utzinger, Mitinhaberin der Bäckerei. Jeden Mittwoch gilt deshalb in Bilkovas Bakery am Hobelwerkweg 37B in Winterthur von 7 bis 12 die «stille Stunde» für sensible Menschen. «Unsere Kasse kann ziemlich laut sein, wir werden dann mittels iPad abrechnen», sagt Michèle Hubschmid, Utzingers Schwester. Die Mutter der beiden ist die Dritte im Unternehmen.
Die «stille Stunde» ist eine Dienstleistung, die laut Utzinger in der Schweiz noch weitgehend unbekannt ist. Laut «stille-stunde.com» stammt die Idee für die «Quiet Hour» von Theo Hogg, einem Angestellten im neuseeländischen Supermarkt Countdown. Hogg hat ein autistisches Kind. Im Supermarkt wird die «stille Stunde» bereits flächendeckend praktiziert. Die Idee wurde in Deutschland übernommen, zum Beispiel von einzelnen Edeka-Filialen. Besonders betroffen von einer Überforderung seien Menschen mit ADHS oder im Autismus-Spektrum. Hier könne eine Reizüberflutung bis zu einem sogenannten «Meltdown oder Shutdown», einem körperlichen Zusammenbruch, führen.
Utzinger schätzt eine ruhige Umgebung ebenfalls. Ihre Diagnose Autismus-Spektrum erhielt sie erst im Alter von 26 Jahren, das war vor zwei Jahren. «Soziale Kontakte zu pflegen, macht mir Mühe», sagt sie. Dies lässt sich für Aussenstehende nicht unbedingt erkennen. «Oft ist es einfach zu viel, ich komme mit der Reizüberflutung nicht klar», berichtet Utzinger. «Einkaufen an einem Samstag geht gar nicht.»
Während der Schulzeit und der KV-Ausbildung habe sie sich nicht mit den andern verbunden gefühlt. Diese Tatsache sei manchmal falsch verstanden worden, etwa als Unfreundlichkeit oder mangelndes Interesse. Während der Schule sei sie eher für sich geblieben mit dem Gefühl, irgendwie anders zu sein. «Oft kam ich mir vor wie ein Alien.» Auszugehen komme für sie wegen der vielen Reize nicht infrage. Sie möge auch keinen Small Talk.
«Wenn mich in der Schule etwas interessierte, dann brannte ich dafür, wenn nicht, liess ich alles schleifen», erzählt Utzinger. Obwohl sie spürte, dass dies nicht gut war, fand sie keinen Weg, dies zu ändern.
«Das ist typisch für Autisten», sagt ihre Schwester, die mit einem Autisten verheiratet ist. Im positiven Sinn seien diese Menschen sehr begeisterungsfähig. «Es war Kim, die sich für die Idee der Bäckerei begeisterte und die Initiative dafür ergriff.»
Die Mutter der beiden wuchs in Tschechien auf und wurde dort früh in die traditionelle Backkunst eingeweiht. Ihre Faszination fürs Kreieren hat sie weitergegeben und ihren Nachwuchs zu backbegeisterten Töchtern gemacht. Nun führen die beiden mit der Gründung von Bilkovas Bakery diesen Brauch fort. «Unsere Weihnachtsguetzli mit den besonderen Gewürzen sind Geschmacksexplosionen», sagt Hubschmid. Die Geschwister verschenkten das Gebäck jeweils im Bekanntenkreis, bis schliesslich ein Kollege die Idee aufbrachte, sich doch selbstständig zu machen. «Wir haben viel experimentiert», sagt Hubschmid. Die Schwestern verfügen über keine Bäckerei-Ausbildung, haben aber in Seen mit einer Mini-Bäckerei Erfahrungen gesammelt. Nun findet der Umzug in die neue Liegenschaft statt, wenn auch mit etwas Bauverzögerung.
Der Eingang der Bäckerei wurde in Rosa mit zwei Sesseln und Dekoelementen gestaltet. Hier darf die Kundschaft beim Einkauf einen Moment Platz nehmen, um herunterzufahren. «Für die Dekoration ist unsere Mutter zuständig», sagen die beiden. «Ich sorge dann dafür, dass es nicht zu viel wird», ergänzt Utzinger.
Noch sind die Regale leer und warten darauf, mit Gipfeli, Broten und Torten gefüllt zu werden. An einer Wand hängt in einem Bilderrahmen das Rezept für die Weihnachtsguetzli. «Dies ist das tschechische Originalrezept unseres Grossvaters», sagt Hubschmid. «Die ganze Bäckerei ist eine Hommage an ihn.»
Am Fenster prangt das Logo der Bäckerei. «Für die Gestaltung wurde ein Porträtfoto unseres Grossvaters verwendet», sagt Hubschmid. «Er ist mittlerweile verstorben, aber in unseren Herzen lebt er weiter.»
⋌Claudia Naef Binz
Stille Stunde
Jeweils Mittwoch von 7 bis 12 Uhr
Bilkovas Bakery, Hobelwerkweg 37B www.bilkovasbakery.ch
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