Jorge Oswald
ist Filmemacher, sein Road-Movie kommt ins Kino.
Die Erfolgsgeschichte der Dauerwelle ist noch nicht zu Ende. 1906 von Karl Nessler erfunden, will ein Nachfahre sein Erbe in Winterthur weiterführen.
Haarpracht Haben Sie es gemerkt? Sie ist wieder da, die Dauerwelle! Der Haartrend aus den 80ern ist jetzt wieder in Mode – und das auch für Männer.
Wer mit der Mode gehen will, der muss heute aber keine Schmerzen mehr leiden. Anders war das vor 120 Jahren, als Karl Ludwig Nessler die Dauerwelle erfunden hatte. Damals galt noch das Sprichwort: «Wer schön sein will, muss leiden.» Zwar war die Damenwelt von der Dauerwelle hoch entzückt, doch dass es ein nicht ungefährliches Abenteuer war, zeigt etwa ein Briefwechsel zwischen dem Winterthurer Coiffeuer E. Rutishauser an der Turmstrasse und dem Erfinder der Dauerwelle. Darin schreibt er, dass die Kundschaft voller Ungeduld auf eine Dauerwelle warte und bereit war, 100 Franken dafür auszugeben. «Ich wurde förmlich bestürmt, eine jede wollte die Erste sein.» Doch der erste Versuch bei einer blonden Dame scheiterte nach acht Stunden harter Arbeit. «Die Freude am Gelingen wurde unterbrochen von zwei Brandwunden in der Grösse eines Fünf-Franken-Stücks», so Rutishauser. Es kam noch schlimmer. Die Wellen hielten dem Waschen nicht stand. Die 100 Franken wurden zurückbezahlt und obendrauf auch ein Schmerzensgeld.
Die Freude blieb nicht lange getrübt, wie ein weiterer Brief zeigt. Ein Jahr später gibt Rutishauser sich «ausserordentlich zufrieden mit dem Resultat». Winterthur hatte dem Schreiben nach damals 25 000 Einwohnerinnen und Einwohner – «und ich bin trotzdem schon heute in der Lage, per Woche zwei bis vier Damen zu wellen, sodass ich jetzt mehr verdiene als mit einem zahlreichen Personal. Ich muss selbst staunen, dass die Leute so leicht das Geld für die Sache ausgeben, selbst Damen aus dem Mittelstand.» Die Technik hat sich verändert, die Dauerwelle ist bis heute geblieben. Doch ob sich auch heute noch so viel Geld damit verdienen lässt, sei dahingestellt. Einer, der zumindest versucht, in die grossen Fussstapfen zu treten, ist der in Winterthur wohnhafte Armin Wolfarth. Der 57-Jährige ist ein Ur-Grossneffe von Karl Ludwig Nessler und einer seiner letzten Nachkommen. Vor Corona hat er sich selbstständig gemacht, um mit Haarpflegeprodukten für den Mann ein Geschäft aufzubauen. Zudem will er in einem Buch die Geschichte seines berühmten Ur-Grossonkels aufarbeiten. «Ich kämpfe gegen das Vergessen von Karl Ludwig Nessler. Ich suche noch Informationen zum Winterthurer Coiffeurgeschäft Rutishauser. Wer etwas weiss, kann sich gern bei mir unter armin@wolfarth.ch melden», sagt Wolfarth.
Karl Ludwig Nessler war ein Tüftler. Geboren 1872 im deutschen Todtnau nahe der Schweizer Grenze hegte er schon früh eine Leidenschaft für Haare. Er bereiste nach der Schulzeit Basel, Mailand und Genf, wo er als Barbier arbeitete. In Paris lernte er seine Frau kennen, die sich für seine Experimente zur Verfügung stellte. «Trotz Brandblasen und versengten Haaren auf dem Kopf des ‹Opfers› war nach dem Versuch zu erkennen, dass die Sache funktioniert hat. Die Dauerwelle war erfunden», heisst es in der Biografie auf der Website nessler-todnau.de. Die Stadt hat übrigens 1996 den Nessler-Preis ins Leben gerufen, der alle drei Jahre an verdiente Friseure vergeben wird.
Offiziell gilt der 8. Oktober als Geburtstag der Dauerwelle. An diesem Tag stellte Nessler seine Erfindung in London zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. In London lebte er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nessler, der als Ausländer behandelt wurde und in ein Internierungslager kam, gelang die Flucht, und er reiste als Mister Miller auf einem Dampfer nach Amerika. Dort gelang es ihm rasch, am Erfolg anzuknüpfen. Es folgten weitere Erfindungen und drei Bücher über Haare und die Kunst der Dauerwelle. Nessler starb 1951 in New Jersey.
Seine Heimatstadt hat Nessler nie vergessen. An seinem Geburtshaus gibt es eine Gedenktafel. Auch in diesem Jahr soll Nessler gewürdigt werden. Am grossen Stadtfest – Todtnau feiert seine 1000-jährige Stadtgeschichte – wird eine Dauerwellenausstellung eingerichtet. Eine Chance für Armin Wolfarth. «Ich will eine eigene Nessler-Linie entwickeln mit hochwertigen Shampoos und Pflegeprodukten und sie am Stadtfest vorstellen», sagt er.
⋌Sandro Portmann
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