MG Grace
ist an zwei Gospelkonzerten zu hören.
Seit über 100 Jahren fördert die Stadt lokale Künstler, indem sie ihre Kunst kauft. Heute sind das nicht nur Bilder, sogar eine Performance wurde erworben.
Kunst Gedankenversunken sitzt die Frau im blauen Kleid vor den Kabinen des Steueramts in Winterthur und wartet. Gestik und Haltung lassen darauf schliessen, dass die Frau schon länger hier sitzt. Die Holzskulptur «Sitzende» von Werner Ignaz Jans aus dem Jahr 2004 reiht sich damit unscheinbar zwischen die anderen Wartenden, die darauf hoffen, dass ihre Nummer bald aufgerufen wird. Warten gehört beim Termin auf der Verwaltung dazu. Die Zeit muss aber keineswegs als verschwendet abgetan werden. Zwischen Einwohnerkontrolle und Steueramt lässt sich nämlich gut verweilen. Dutzende Werke lokaler Kunstschaffender zieren den Superblock und machen ihn zu einem Museum. Der Kunst sind kaum Grenzen gesetzt: Abstrakte Bilder hängen neben einer Installation, Fotografie neben gegenständlicher Malerei. Der Schwerpunkt liegt in den vergangenen 30 Jahren.
80 Kunstwerke von 30 Künstlern sind im Superblock ausgestellt, wobei nur ein Teil davon öffentlich zugänglich ist. Der andere Teil hängt in den Büros und Sitzungszimmern der städtischen Mitarbeiter. «Wir nennen diesen Bereich halböffentlich», sagt Tanja Scartazzini, die Amtsleiterin Kultur bei der Stadt. Das Ziel sei, möglichst viele der Werke im städtischen Besitz auch öffentlich sichtbar zu machen. Ausgestellt sind die Bilder und Skulpturen auch in Schulhäusern und Altersheimen. Doch die Wände der Winterthurer Verwaltung sind zu klein, um alle Bilder auszustellen.
Insgesamt sind rund 3500 Kunstwerke wie Bilder, Skulpturen, Videos oder Fotografien im Besitz der Stadt Winterthur. Was nicht ausgestellt ist, ist im Depot eingelagert. 112 Werke sind zudem an Winterthurer Museen ausgeliehen. «Ich schätze 40 Prozent der Werke sind öffentlich oder halböffentlich zugänglich. Ein Wert, der mir zu tief ist. Ich würde gern mehr zeigen», sagt Tanja Scartazzini. Dies sei aber nicht immer möglich. «Viele der Werke sind uralt oder nicht mehr zeitgemäss.» Für ein Stillleben mit goldenem Rahmen sei es schwieriger einen geeigneten Platz zu finden als für zeitgenössische Kunst. Doch auch diese muss um einen Platz kämpfen, wie Karin Frei Rappenecker, Verantwortliche Kunstsammlung und Kunst-und-Bau, sagt. «Es ist ein architektonischer Trend, dass es immer mehr Glas und weniger geeignete Wände gibt. Aber wir finden immer einen Platz.»
Die Stadt Winterthur kauft seit 1922 Werke von regionalen Kunstschaffenden. Damals litt auch die Schweiz unter den Folgen einer Wirtschaftskrise. Mehrere Winterthurer Künstler baten den Stadtrat um Hilfe. Diese kam in Form von Kunstkäufen. «Es sollte nicht vorkommen, dass junge, wahre Künstler, auch wenn sie das Ziel künstlerischer Vollendung noch nicht erreicht haben, am Hungertuche nagen, oder gar ihr Talent brach liegen lassen müssen, weil sie aus Not gezwungen werden, auf andere Weise ihr tägliches Brot sich zu verschaffen», so die Haltung des damaligen Stadtrats. Am Gedanken der Kunstförderung hat sich bis heute wenig geändert. Welche Künstler unterstützt werden, entscheidet die städtische Kunstkommission, der zwölf Personen angehören. «Ganz wichtig ist der lokale Bezug, und natürlich muss auch die Qualität stimmen. Unsere Sammlung ist ein Spiegel der lokalen Kunstwelt der letzten 30 Jahre», sagt Karin Frei Rappenecker. Neu ist aber das Spektrum der geförderten Kunst. «Kunst hat heute ganz viele Formen», wie sie sagt. So entschied die Kunstkommission im letzten Jahr, neben Bildern auch eine Performance zu kaufen. «Wir müssen noch überlegen, wie wir das umsetzen, aber der Schritt zeigt, dass die Stadt durchaus innovativ bei der Kunstförderung ist», sagt Scartazzini. Die Sammlung der Stadt ist etwas Besonderes. «Wie keine andere Sammlung repräsentiert die Kunstsammlung der Stadt Winterthur die regionale Kunstgeschichte in einer ansehnlichen Breite und stellt damit ein einzigartiges Dokument dar», heisst es bei der Stadt zur Geschichte der Kunstsammlung. In diesem Jahr stehen der Kommission 60 000 Franken für die Kunstkäufe zur Verfügung. Im letzten Jahr waren es noch 70 000 Franken.
Ein Werk, das Platz braucht, ist der Holzschnitt «ging ein paar vorbei» von Thierry Perriard. Das drei Meter hohe und fast vier Meter breite Werk befindet sich ebenfalls im Erdgeschoss im Superblock. Am unteren Rand ist das Papier leicht eingerissen. «Wahrscheinlich eine Putzmaschine», vermutet Scartazzini. «Wir sind kein Museum. Wir haben einen anderen Auftrag. In einem Museum würde ein solcher Riss sofort restauriert.» Im Superblock nimmt man es gelassener. Dass das Publikum im Superblock nicht immer auch kunstaffin ist, führe aber nicht zu Problemen. «Bis jetzt ist noch nie ein Kunstwerk kaputtgegangen, weil jemand unvorsichtig war», sagt Karin Frei Rappenecker.
Wie in einem Museum ist die Kunstvermittlung auch im Superblock ein grosses Thema. Interessierte finden auf der Website der Stadt einen Onlinekatalog mit Angaben zu Künstlern und Werken. Erlebbar wird die Kunst auch mit der App «Artcatch». Dennoch: Viele Werke hängen ohne Infos an der Wand. «Tatsächlich könnten wir mehr machen», sagt Scartazzini. Ideen gibt es viele.
⋌Sandro Portmann
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