Irene Mazza
singt und erzählt Geschichten im Museum Schaffen.
Wie in Irland um Feenhügel herumgebaut wird, baut die Stadt in Töss um einen nicht mehr genutzten Gleis-Stummel. Eine Stadtgeschichte.
Winterthur Die rauchenden Schlote gehören schon längst nicht mehr zum Winterthurer Stadtbild. Die alles überragenden Industriehallen sind jetzt Kino, Museum und Restaurant. Die bedeutende Industriestadt wurde zur Kulturstadt. Doch das historische Erbe wird mit Stolz hochgehalten, auch im Kleinen. Das zeigt die Geschichte um einen kurzen Gleisabschnitt in Töss, der mit verhältnismässig viel Aufwand unterhalten wird.
Voraussichtlich 2025 fährt die Stadt in der Klosterstrasse in Töss mit Baggern auf. Werkleitung und Kanalisation im Untergrund sind in die Jahre gekommen und werden saniert. Eine Routinearbeit. Wären da nicht die paar Meter Industriegleis, die zum Rieter-Areal führen. Der Unternehmer und Ständerat Heinrich Rieter hat sich 1876, als die Bahnlinie Winterthur–Koblenz–Basel eröffnet wurde, dafür eingesetzt, dass sein Fabrikareal mit dem Gleis erschlossen wird. Das Gleis ist also auch ein Symbol für die Stadtgeschichte. Oder wie Stadträtin Christa Meier sagt: «Den Gleisen auf dem Areal und den Anschlussgleisen kommt grosse ortsbauliche und industriegeschichtliche Bedeutung zu. Insbesondere die Anschlussgleise sind ideengeschichtliche Zeugen für die fortschreitende Industrialisierung in Obertöss und deswegen erhaltenswert.» Die Stadt setzt sich für die Gleise ein, auch wenn diese seit Jahrzehnten ungenutzt sind. Bei der anstehenden Strassensanierung wird das Gleis nach dem Ausbau wieder eingebaut. Ein Fachmann schätzt die Kosten auf 100 000 bis 120 000 Franken. «Eine genaue Kostenschätzung für die Gleise liegt nicht vor», kommentiert die Stadt auf Anfrage.
Tatsächlich geniessen die Gleise, welche an vier Stellen die Klosterstrasse queren, auf Bundesebene höchsten Schutz. Sie befinden sich im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) in der höchsten Erhaltungskategorie. «Das Inventar äussert sich nicht explizit zu den Gleisen. Sie sind als Teil eines Ensembles zu verstehen, als strukturelles Element des Rieter-Fabrikareals, das historisch eine wichtige Bedeutung innehat», erklärt Giusto Aurora, stellvertretender Leiter des ISOS. 1200 Ortsbilder sind im ISOS inventarisiert. Winterthur sei nicht die einzige Ortschaft, dessen Gleise denkmalpflegerisch von Bedeutung sind. «Ein Paradebeispiel ist Kemptthal», sagt Aurora. Das ISOS ist für Städte und Gemeinden eine wichtige Entscheidungsgrundlage bei der Ortsplanung und es spiegelt sich im behördenverbindlichen Richtplan. Trotzdem: Auch wenn die Gleise laut Bundesinventar höchst erhaltenswert sind, geschützt sind sie nicht. «Das ISOS ist keine absolute Schutzverfügung», sagt Aurora. Ortsbilder seien keine Monolithen. Das ISOS zeige, worauf bei der Ortsplanung Rücksicht genommen werden müsse. «Aber am Schluss muss die Stadt die Interessen abwägen. Die Stadt ist frei, wenn es nachvollziehbare Gründe gibt», so Aurora.
Erstaunt über die Bedeutung des Industriegleises, fragte die GLP im April im Stadtparlament nach. «Ist es zutreffend, dass aus Gründen des Denkmalschutzes rund 100 000 Franken in den Erhalt eines seit Jahren ungenutzten Industriegleises auf der Klosterstrasse investiert werden soll?», wollte Samuel Kocher wissen. «Der Erhalt dieser Gleise ist nicht nur teuer, sondern diese sind auch immer eine potenzielle Gefahr für zu Fuss Gehende und Velofahrende.» Auch die GLP-Präsidentin Annetta Steiner findet auf Nachfrage: «In Zeiten, in denen wir um jeden Franken für neue Schulhäuser und Turnhallen feilschen, muss man sich schon fragen, ob so etwas verhältnismässig ist.»
Die Sicherheit sei gewährleistet, sagte Stadträtin und Bauchefin Christa Meier. Die Gleise würden mit Strassenbelag aufgefüllt. Allerdings ist die Sicherheit kein besonderes Thema. Seit 2011 ist kein polizeilich registrierter Unfall mit Personenschaden bekannt. «Dass es sich hier um keinen Unfallschwerpunkt handelt, hängt auch damit zusammen, dass die Gleise rechtwinklig zur Klosterstrasse verlaufen», so Meier. Ähnlich ist die Stadt beim Sulzer-Areal verfahren. Dort kam es wegen den Industriegleisen regelmässig zu Unfällen. Die Stadt reagierte zwar, jedoch verbesserte weder das Auffüllen der Gleise mit einem speziellen Gummi, noch die Einrichtung einer Begegnungszone die Situation. Erst als 2021 der Gummi durch Strassenbelag ersetzt wurde, gingen die Unfälle zurück. Seit der neusten Auswertung 2023 ist der Unfallschwerpunkt aus der Statistik gefallen.
Auf der Südseite der Klosterstrasse führen die Gleise ins Rieter-Areal. Das 75 000 Quadratmeter grosse Grundstück gehört seit Herbst 2023 dem Immobilienkonzern Allreal, der dort modernen Arbeits- und Wohnraum schaffen will. Ob diesen Plänen das historische Gleis im Weg steht, könne man noch nicht sagen. «Derzeit ist noch völlig offen, was dereinst mit den Gleisen auf dem Areal zum Bahnhof Töss passieren soll. Aktuell liegen noch keine konkreten Pläne für neue Bauprojekte auf dem Areal vor», sagt Reto Aregger, Leiter Kommunikation der Allreal-Gruppe.
Während die Stadt ihre schützende Hand über ihre industrielle Geschichte hält, erinnert sie an nordische Länder wie Irland. Dort hütet man sich, mit Bauprojekten Naturgeister zu verärgern. Lieber wird um einen Feenhügel herumgebaut.
⋌Sandro Portmann
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