Franziska Baetcke
ist Leiterin der Winterthurer Bibliotheken.
Dieses Gesetz ist ein Papiertiger: Zum Leidwesen von Behinderten und Senioren fehlen in vielen Treppenhäusern in Winterthur beidseitige Handläufe.
Sicherheit Der Blick in die Winterthurer Treppenhäuser offenbart eine Diskrepanz zwischen Vorschrift und Praxis. Ob Stadtverwaltung, Parkhäuser oder Schulen: Kaum ein öffentliches Gebäude hält sich an die Bauvorschriften. Diese schreiben vor, dass bei einer öffentlich zugänglichen Treppe auf beiden Seiten ein Handlauf angebracht werden muss. Geregelt ist dies unter anderem in der SIA Norm 500 für hindernisfreies Bauen. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) definiert mit seinen Normen, was als Regel in der Baukunde gilt. Nicht zuletzt schreibt auch die städtische «Richtlinie Absturzsicherung» des Baupolizeiamts vor, dass bei Treppen ab fünf Stufen ein beidseitiger Handlauf nötig ist. Dabei geht es vor allem um Sicherheit und um Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung. Das Thema betrifft viele: Fast ein Drittel der Winterthurerinnen und Winterthurer ist laut Statistik älter als 60 Jahre.
Prominentes Beispiel ist der Superblock, der Sitz der Stadtverwaltung. Beim Gebäude aus dem Jahr 2015 fehlen beidseitige Handläufe im Treppenhaus. Die Stadt Winterthur weiss um diesen Missstand. Der pensionierte Architekt und frühere Besitzer einer Handlauf-Firma, Siegfried Schmid, hatte die Stadt Winterthur im Jahr 2023 mehrmals auf das Fehlen von beidseitigen Handläufen hingewiesen. Der Mailverlauf liegt der Redaktion vor. Es gehe ihm nicht um wirtschaftliche Interessen. «Ich kämpfe für die Sicherheit der Menschen», sagt Schmid. Seine schwerbehinderte Schwester hat ihn für dieses Thema sensibilisiert. «Die Stadt müsste ein Vorbild sein, hält sich aber nicht an ihre eigenen Gesetze», ärgert sich Schmid. Seniorinnen und Senioren wollen ohne fremde Hilfe Treppen steigen – auch wenn sie eine Streifung hatten, eine Hüftoperation, einseitig gehandicapt sind oder einfach nur älter und schwächer sind», so Schmid.
Die Stadt sieht im Fehlen der Handläufe indes keinen Widerspruch zu den eigenen Richtlinien aus dem Jahr 2010. «Das ist alles korrekt. Gemäss der Baubewilligung aus dem Jahr 2011 muss bei Treppen bis zu einer Breite von 1,5 Metern mindestens auf einer Seite und bei breiteren Treppen beidseitig ein Handlauf angebracht werden. Das Haupttreppenhaus im Superblock hat eine Breite von 1,35 Metern, entspricht damit mit einem Handlauf den Vorgaben», sagt Lukas Mischler, Departementssekretär Bau und Mobilität auf Anfrage. Auch die Axa als Bauherrin argumentiert mit der Treppenbreite. «Bei der Vorbereitung des Baugesuchs wurde die Behindertenkonferenz des Kantons einbezogen und ihre Empfehlung im Baugesuch berücksichtigt», sagt Michaela Leuenberger, Mediensprecherin der Axa. Diese Auslegeordnung stimme so nicht, sagt Schmid. Tatsächlich gibt es vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im Arbeitsgesetz eine Verordnung, nach der Treppen mit weniger als 1,5 Metern nur einen Handlauf benötigen. «Dies betrifft aber nur Gebäude, die reine Arbeitsstätten sind. Es wird nicht angewendet in Treppenhäusern, die öffentlich zugänglich sind, wo fremde Menschen sich treffen», so Schmid. Bei der Behindertenkonferenz Zürich weiss man allerdings nichts von einer Beratung bei der Baubewilligung des Superblocks, wie Geschäftsführerin Martina Schweizer auf Anfrage sagt. «Wir waren 2011 definitiv nicht in das Bewilligungsverfahren involviert oder haben das Projekt beraten. Grundsätzlich haben wir die klare Haltung, dass zwei Handläufe nötig sind.»
Die Stadt sieht keinen Missstand, ein Nachrüsten von Handläufen sei deshalb keine Option. «Das vor zehn Jahren erstellte Gebäude ist in seinem Bestand geschützt. Eine Pflicht zur Nachrüstung besteht nur, wenn von einem Sicherheitsrisiko auszugehen wäre. Eine Nachrüstung im Haupttreppenhaus des Superblocks könnte – abgesehen vom Bestandsschutz – auch die Breite der Fluchtwege verschmälern, was im Brandfall suboptimal wäre. Für den normalen Betrieb stehen zudem behindertengerechte Aufzüge zur Verfügung», sagt Mischler weiter.
Auch hier widerspricht der Experte. «Die Antwort auf die Frage, ob es Bestandschutz zum Beispiel auf Treppen, die bereits bei der Errichtung fehlerhaft waren, gibt, lautet ganz klar nein», sagt Joseph A. Weiss, Dr. sc. techn., Dipl. Physiker ETH, Arbeitshygieniker SGAH, Sicherheitsingenieur EKAS, vom Staatssekretariat für Wirtschaft. Sowohl das Arbeitsgesetz als auch das Unfallversicherungsgesetz würden für die Erfüllung ihrer Schutzziele unter anderem das Einhalten vom «Stand der Technik» fordern. «Der Begriff ‹Bestandschutz› existiert in deren rechtlichem Kontext nicht», so Weiss. «Wenn sich eine Massnahme für das Erreichen eines Schutzziels als notwendig erweist, deren Realisierung möglich ist und dem Stand der Technik entspricht – und das ist bei Treppengeländern und Handläufen mit Sicherheit der Fall –, so ist diese Massnahme in jedem Fall umzusetzen – auch für Nachrüstungen.»
Das Problem fehlender Handläufe ist auch Procap bekannt, dem grössten Mitgliederverband für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. «Tatsächlich fehlen vielerorts Handläufe», sagt Remo Petri, Ressortleiter Bauen Wohnen Verkehr, bei Procap auf Anfrage. Das Problem seien die verschiedenen unterschiedlichen Stellen, die nicht gemeinsam an an einem Strang ziehen. «Das Thema wird gern zwischen verschiedenen Akteuren hin und her geschoben. Grundsätzlich sind sich alle einig, dass es sich um eine vernünftige Massnahme handelt. Sobald jedoch die Frage im Raum steht, wer der Urheber sein soll, beginnen sich die Dinge zu relativieren», weiss Petri.
Verschiedene Organisationen wie die Suva, die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU), das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), die Vereinigung kantonaler Feuerversicherungen oder der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) haben eigene, ähnliche Verordnungen und Empfehlungen, die jedoch keinen gesetzlichen Charakter haben. Anders das Behindertengleichstellungsgesetz, wonach Menschen mit Behinderung im Zugang und der Benutzung einer Baute nicht diskriminiert werden dürfen. «Für Menschen mit Behinderungen als besonders vulnerable Gruppe sind beidseitige Handläufe wichtig. Es gibt Personen mit Gehbehinderungen oder Menschen mit halbseitigen Einschränkungen wie beispielsweise nach einem Schlaganfall, die für eine Nutzung der Treppe darauf angewiesen sind», so Petri. Das Gesetz hat laut dem Procap-Sprecher einen Nachteil. Für Procap ist die Situation unbefriedigend. «Eine Änderung könnte man natürlich herbeiführen, wenn man wollte. Das würde jedoch den Willen aller Akteure bedingen und nicht nur jener der Behindertenorganisationen», so Petri.
Treppen steigen ist nicht nur gesund. Wie gefährlich der Gang über die Stufen sein kann, zeigen die Unfallzahlen der Suva. Laut dem Schweizer Unfallversicherer verunfallen jährlich 32 500 Personen, weil sie auf der Treppe gestolpert sind. «Diese Unfälle haben oft schwerwiegende Verletzungen zur Folge», schreibt die Suva dazu. Sie rät deshalb zum Griff um das Geländer: «Die meisten Unfälle auf der Treppe hätten sich vermeiden lasen, wenn das Treppengeländer benutzt worden wäre», schreibt die Suva zu den Unfällen. Die Kosten belaufen sich laut Suva auf jährlich 1,4 Milliarden Franken.
⋌Sandro Portmann
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