Andrea Lutz
Ist Co-Kuratorin der Ausstellung zu Vallotton.
Seit über 200 Jahren beschäftigt sich die Archäologie mit der Erforschung der römischen Kleinstadt Vitudurum. Nun liegt erstmals eine Gesamtschau vor.¶
Archäologie So genau haben Sie Winterthur noch nie gesehen: Auf dem heutigen Kirchhügel von Oberwinterthur lag einst das Zentrum der römischen Siedlung Vitudurum. Die jüngste archäologische Forschung zeigt, wie sich die kleinstädtische Siedlung zur spätantiken Festung wandelte. Und: Sie weist nach, dass die Römer in Winterthur Schnecken assen und weitum Handel trieben. In der soeben erschienenen Publikation «Das Zentrumsquartier im römischen Oberwinterthur» legt der Zürcher Archäologe Markus Roth eine umfassende Analyse dazu vor. Seine Auswertungen und Interpretationen erweitern das Bild der einstigen Siedlung und liefern wichtige Impulse für dessen weitere Erforschung.
Das besondere am Buch: Es trägt aktuelle und frühere archäologische Forschung zur etwa zehn Hektaren grossen römischen Siedlung zusammen – zum ersten Mal von Grund auf. Dazu war vom Autor vor allem viel Fleissarbeit nötig. «Das Vorhaben glich einem Puzzlespiel aus einer unendlich wirkenden Menge an Sondierschnitten und Grabungsflächen aus den letzten zwei Jahrhunderten, deren Dokumentationen sowohl im Hinblick auf Quantität als auch auf Qualität beträchtliche Unterschiede aufweisen», schreibt er im Vorwort des 446 Seiten starken Buches. Die Suche nach relevanten Puzzleteilen habe sich als schwierig erwiesen.
Neben den allgemeinen Linien der Entwicklungsgeschichte des Zentrumsquartiers von Vitudurum und den Umbrüchen in der Spätantike geht Roth in seiner Publikation auch auf zahlreiche Funde und Befunde ein, die interessante Einblicke in das Alltagsleben der Römersiedlung und ihre wirtschaftliche Verflechtung ermöglichen. Dazu gehören unter anderem Schneckenhäuser, die auf die damaligen Essgewohnheiten hinweisen, und ein goldener Ring mit der Inschrift Constantino fidem – eine Treuebekundung zu Kaiser Konstantin dem Grossen. Als besonders aufschlussreich erweist sich die chemische Untersuchung der in Oberwinterthur gefundenen Terra Sigillata (römisches Tafelgeschirr), auf deren Grundlage Handelsbeziehung nach Rheinzabern, Trier, Augst und Avocourt in den Argonnen nachgewiesen werden können. Zusammen mit der Untersuchung weiterer Importware wie Amphoren von der Iberischen Halbinsel sowie aus Nordafrika und Palästina ergibt sich ein deutliches Bild, wie vernetzt Oberwinterthur einst gewesen sein muss.
Die römische Siedlung Vitudurum im heutigen Oberwinterthur wurde im ersten Jahrzehnt vor Christus gegründet. Spätestens um 30 n. Chr. begann die Überbauung auf dem heutigen Kirchhügel. Das Quartier zeichnete sich von Anfang an durch einen grossen und weitläufigen Platz aus, der von Häusern umgeben war. In der weiteren Entwicklung kamen ein zentraler Tempel und eine öffentliche Badeanlage, später ein zweiter Tempel sowie ein basilikaartiges Gebäude hinzu. Welchen Gottheiten die Tempel geweiht waren, ist unklar. Funde in der Nähe des Tempels deuten auf einen Kult des Götterboten Merkur und des Soldatengotts Jupiter Dolichenus hin.
Vom Quartier zur Befestigung Wie archäologische Funde und Befunde zeigen, kam es im Übergang zur Spätantike in Vitudurum zu tiefgreifenden Veränderungen. Die öffentlichen Gebäude und die Häuser im Zentrumsquartier wurden in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts abgetragen, um Platz für eine Befestigungsanlage zu schaffen. Aller Wahrscheinlichkeit nach diente die Anlage in erster Linie als Zufluchtsort für die Bevölkerung in einer von wirtschaftlicher Instabilität und von äusseren Bedrohungen geprägten Zeit. pd/spo
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